Am 30. April traf ich mich in Hamburg zu einem Gespräch mit dem grünen Europa-Abgeordneten (und mittlerweile Berichterstatter des Parlaments für die EU-Datenschutz-Verordnung) Jan Philipp Albrecht. Das Gespräch hatte keinen spezifischen Schwerpunkt, aber im Vordergrund standen natürlich Unterschiede zwischen und Gemeinsamkeiten von Grünen und Piraten. Da der Bundesparteitag in Neumünster gerade frisch hinter uns lag, bot sich das als Einstieg an. Mit dabei waren Günther Latsch, Redakteur Der Spiegel, und der Fotograf Maurice Weiss, mit dem es in der Mitte des Gesprächs (ab ca. 1:29) einen kurzen, interessanten Dialog über das Urheberrecht im Bildrechtebereich gab, welches leider akustisch nicht verständlich war und deswegen rausgeschnitten werden musste. Ich ließ mein Ihpone mitlaufen, da ich mir von dem ganzen Gespräch einen Mehrwert erhoffte – zum Glück, wie sich später herausstellte. Denn sogar der Spiegel fertigte später das Interview, das im Print-Spiegel vom 7. Mai erschien, auf Grundlage meiner Aufzeichung an.
Zur Vorbereitung des Gesprächs las ich einiges an Literatur. unter anderem das Buch „Die Grünen“ von Ludger Vollmer. Ich schaute mir auch nochmal einen Artikel von Pavel Mayer an, den er mitten im Bundestagswahlkampf über das deutsche Parteiensystem geschrieben hatte. Dieser Artikel brachte mich ein bisschen zum Nachdenken. „Braucht die Welt die Piratenpartei oder die Ankunft der zweiten postmateriellen Internationale“ (die „zweite“, weil die Grünen die ersten waren) ist zwar an einigen Stellen überarbeitbar, hat von seiner Aussagekraft aber meines Erachtens nach im Kern nichts verloren. Wer diesen Artikel liest – und dabei besonders Pavels Auflistung von materialistischen und postmaterialistischen menschlichen Bedürfnissen – und sich dazu das Spiegelgespräch anhört, wird eventuell das Gefühl bekommen, manche Berichterstattung über die Piraten besser zu verstehen. In diesem Zusammenhang werden nämlich häufig folgende Fragen gestellt:
1. Warum haben die Piraten trotz ihrer vielen Positionen noch kein außen-, wirtschafts- und finanzpolitisches Programm, obwohl dies allgemein als Kernelemente einer Parteienkonstituierung und ihrer Unterscheidungsfähigkeit angesehen werden?
2. Warum scheint sie das gar nicht so sehr zu wurmen, wie man erwarten könnte?
3. Warum legen die Medien einen so großen Wert auf die Frage nach der Positionsfindung in den oben genannten Themenkomplexen?
4. Warum fragen sie in diesem Zusammenhang auch eher nach dem „Wann?“ als nach dem „warum noch nicht?“ oder dem „Was stattdessen?“
Mögliche Antworten gemäß der Parteiendarstellung von Pavel wären wohl:
1. Weil die Piraten eine postmaterialistische Partei sind und daher die klassischen (materialistischen) sicherheits- und wirtschaftspolitischen Fragen weniger hoch priorisieren als die postmaterialstischen Themen.
2. Weil sie auch nicht unter Druck stehen, da ihre Wähler vor allem postmaterialitisch orientiert sind und zudem die Anzahl der postmaterialistisch orientierten Wähler gemessen an der Gesamtbevölkerung langfristig sogar tendienziell noch steigen wird.
3. Die Medien wiederum sind in ihrer Berichterstattung (noch) durch die Mehrheitsparteien und die Mehrheitsbevölkerung geprägt und haben ihren Schwerpunkt in der Regel noch auf den klassischen Themen und in der klassischen Sicht auf Politik.
4. Sie gehen davon aus, dass die Noch-Nicht-Positionierung der Piraten in diesen Feldern ein Fehler war und ist, der so schnell wie möglich beseitigt werden muss. Ein Versehen, dass man damit erklären kann, dass am Anfang eben einfach niemand in der Partei war, der zu diesem Themen genug Ahnung hatte, um vernünftige Positionen zu formulieren, und die Piraten bescheiden genug waren, um dies vorerst zu unterlassen, was man aber schnell ändern muss, um langfristig überhaupt politisch erfolgreich sein zu können.
Extrem formuliert und dieser These streng folgend könnte man auch sagen, dass große Teile der Berichterstattung über die Piratenpartei in ihrer Ausrichtung grundlegenden Missverständnissen unterliegen, die aus der Nichtbeachtung der proportionalen Verschiebungen zwischen materiellen und postmateriellen Bedürfnissen in der deutschen Bevölkerung der letzten Jahrzehnte entspringen. Falls ihr diese These bedenkenswert findet, freue ich mich über Kommentare dazu.
Natürlich war dies nicht das einzige, über das wir in Hamburg sprachen. Folgende weitere Themen kamen dran:
Parteitagsorganisation
Grenzen der Meinungsfreheit
(Grenzen der) Basisdemokratie
Teilhabe
Postmaterialismus
Schwarmintelligenz
Minderheitenrechte
Unterschiede zwischen Parteien
BGE und Menschenbild
Eurokrise
Haushaltspolitik
Mehr Postmaterialismus
Staatsquote
Urheberrecht (etwas länger)
Intervention des Fotografen bei 1:29 (rausgeschnitten)
Unternehmerkrise
Facebook und Unternehmerdatenschutz
Staatliche Kontrolle von Unternehmen
Selbstorganisation der Gesellschaft
2012, das neue 1982?
Wahlprogramme ohne Parlamentserfahrung
Anschlussfähigkeit der Piraten
Koalitionsverhandlungen und Verantwortungsbewusstsein
Mobilisierung von Nichtwählern
Berichterstattung über Piraten
Transparenz im Parlament
Da Du ja um Kommentare zu Deiner These gebeten hast:
Müssten sich nicht gerade Postmaterialisten um, beispielsweise, Syrien kümmern, wo wir von einem wie auch immer gearteten Eingreifen nichts Materielles haben und es nur um Empathie oder Menschenrechte oder so gehen kann?
Ist nicht „Kostenlos aus dem Internet“ ein zutiefst materialistisches Thema, vor dessen Hintergrund die Partei gegründet wurde?
Die aktuell im Vordergrund stehenden Themen (innerparteiliche) Demokratie und Transparenz sind sicher eher postmaterialistisch, wenn man das so einteilen kann, aber es scheint mir doch eher ein Zufall zu sein – und nicht geschuldet der Tatsache, dass Ihr eben vor allem postmaterialistische Themen abarbeitet.
Hi Carsten,
danke für den Input. Was die Werte des Materialismus bzw. Postmaterialismus angeht, orientiere ich mich weitgehend an der Tabelle von Pavel Mayer. Tatsächlich ist es für mich eingängig, dass gerade Menschen, die in Krisengebieten/-situationen leben, vor allem auf materielle Werte schauen, da dies einfach wichtiger ist. Dazu, warum das ist, empfehle ich einen Blick auf Maslovs Bedürfnispyramide, die in kurz sagt: Erst wenn bestimmte Bedürfnisse wie atmen und genug zu essen erfüllt sind, treibt es den Menschen nach Kultur, Selbstverwirklichung und moralischer Vollendung. Falls es dazu noch Fragen gibt oder begründeten Widerspruch, nur zu. Ich diskutiere sehr gerne zu diesem Thema.
Viele Grüße,
Fabio