Volle Kraft voraus!

Anmerkung: Der Artikel wurde geschrieben für Polli, das Magazin zum Berliner Jugend­forum im Berliner Abgeord­ne­tenhaus und erschien hier.

Wir schreiben das Jahr 2006. Im bekannten Berliner Szene-Club „c-base“ treffen sich etwa 50 deutsche Netzak­ti­visten, Hacker und Polit­in­ter­es­sierte. Inspi­riert von der schwe­di­schen „Pirat­partiet“ gründen sie eine Partei zur Umsetzung ihrer politi­schen Ziele: die Piraten­partei Deutschland. Fast das gesamte beschlossene Grund­satz­pro­gramm dreht sich um Netzthemen. Es geht um freie Infra­struk­turen, Urheber­recht, Patente, Privat­sphäre und Daten­schutz. Streng betrachtet ist darunter kaum etwas funda­mental Neues. Im bunt zusam­men­ge­wür­felten Programm tauchen die Urheber­rechts­po­si­tionen der schwe­di­schen Schwes­ter­partei auf. Dazu kommen die nieder­ge­schrie­benen schlechten Erfah­rungen vieler Software-Entwickler in ihrem vorjäh­rigen Kampf gegen den Versuch der Lobby­isten, Software-Patente auch in Europa einzu­führen. Im Bereich Privat­sphäre und Daten­schutz wird kodifi­ziert, was im Arbeits­kreis Vorrats­da­ten­spei­cherung, der führenden Organi­sation gegen Über­wa­chung in Deutschland, schon länger voran­ge­trieben wird. Dort – und nicht etwa in der gerade von ihnen gegrün­deten Partei – wird denn auch weiterhin der Arbeits­schwer­punkt vieler Mitglieder liegen. Grund dafür ist die höhere Reich­weite. Die Piraten­partei nimmt zu diesem Zeitpunkt kaum jemand wahr. Und bis zur nächsten echten Program­mer­wei­terung sollen noch 4 Jahre vergehen.

2011: Wir ziehen ins Abgeord­ne­tenhaus ein!

Fast Forward 2011. Nach der Über­nahme von mittler­weile über 100 kommu­nalen Mandaten gelingt uns im September 2011 in Berlin der Einzug in das erste Landes­par­lament – mit der gesamten Landes­liste. Bundesweit liegen die Piraten momentan in Umfragen auf Augen­höhe mit der Links­partei, weit vor der in der Regierung vertre­tenen FDP. Sicher, wir sind Akteure, aber nicht die einzigen auf der Berliner Bühne: Viele verschiedene Ideen für Berlin konkur­rieren derzeit darum, Gehör zu finden. Viele, die vielleicht selbst der Meinung sind, das beste Konzept für die Stadt zu haben, fühlen sich über­gangen und versuchen sich zu organi­sieren, um ihre Anliegen stärker in die Öffent­lichkeit zu tragen. Unsere Konzepte, das Wahlpro­gramm der Berliner Piraten, finden derweil jedoch besondere Aufmerk­samkeit. Viel wurde und wird disku­tiert über die piratige Idee des fahrschein­losen ÖPNV, der – wie es an vielen Unis üblich ist – dieje­nigen stärker belastet, die diesen nicht nutzen (zum Beispiel, weil sie lieber Auto fahren) und dieje­nigen entlastet, die ihn häufig nutzen. Diese Vision würde dazu führen, dass ganz abseits von Tempo 30-Zonen und Verboten, die Menschen dazu motiviert werden, den ÖPNV stärker zu nutzen; die Straßen würden entlastet und müssten seltener ausge­bessert werden, die A100 wäre kein Streit­thema und die Umwelt­di­vi­dende wäre enorm.

Ich meine: Struk­turen von Organi­sation sind wichtiger denn je

Bei den Bürgern herrscht derzeit aber nicht nur Wut darüber, dass sie nun voraus­sichtlich von einer Koalition beherrscht werden, die nur 20 Prozent von ihnen vor der Wahl anstrebten. Es herrscht auch in schöner Regel­mäßigkeit Erregung darüber, dass die in den Wahlpro­gramm vertre­tenen Positionen nach der Wahl oft kaum mehr relevant sind. Zu sehen war dies, als Rot-Rot das von ihrer jewei­ligen Partei­basis vertretene Ziel „Wahl­alter 16“ in der gemein­samen Regierung einfach still und heimlich beerdigt hatte, ohne zu erklären, warum man es nicht einfach umsetzt. Dieses und viele weitere Beispiele verhin­derter Politik zeigen: Viel wichtiger als früher sind die Struk­turen von Organi­sa­tionen – und vor allem Parteien – im Vergleich zur Program­matik.

„Nicht netzpo­li­tisch“ aber im Netz geboren – das sind die Piraten

Das war damals auch einer der Gründe, eine eigene, deutsche Piraten­partei zu gründen. Dabei sollte man sich nicht davon täuschen lassen, dass sich das damals beschlossene Grund­satz­pro­gramm um Netzthemen wie Privat­sphäre und Daten­schutz, Urheber­recht und Patente drehte. Schließlich liegen die Visionen der Partei für die Gesell­schaft schon bereit – sie sind nur noch nicht allesamt kodifi­ziert. 2011 beschreibt der Blogger Michael Seemann die Partei als „nicht netzpo­li­tisch“ aber im Netz geboren. Die Ziele, die man am ehesten unter dem Begriff „Platt­for­m­neu­tra­lität“ (über­setzt vielleicht Teilhabe) zusammen fassen könne, seien Ablei­tungen aus dem Internet, einer Welt, die ohne Diskri­mi­nierung, ohne über­mäßige zentrale Regulierung und Zugangs­hürden am besten funktio­niert. Das heißt, Zugangs­hürden wie Hartz4-Sanktionen, ÖPNV-Tickets müssen abgebaut werden, Diskri­mi­nierung wie die über­triebene Einordnung in das 2-Geschlechter-Schema sowie die gesell­schaft­liche Bevor­zugung der Kirchen muss entgegen gewirkt werden. Bildung muss frei zugänglich sein und die Residenz­pflicht für Asylbe­werber gehört abgeschafft. Ein bunt zusam­men­ge­wür­feltes Programm ohne rote Linie? Keineswegs.

Wir stehen für Freiheit, Selbst­be­stimmung, Solida­rität und die Über­windung von Zugangs­hürden

Freiheit, Selbst­be­stimmung, Solida­rität und die Über­windung von Zugangs­hürden sind nicht nur der rote Faden, der sich durch die politi­schen Forde­rungen zieht, sondern auch die Grundlage der politi­schen Einstellung der Mitglieder; was sich natürlich auch auf den Umgang unter­ein­ander auswirkt. Die Kombi­nation aus jungen, motivierten Menschen, flachen Hierar­chien und schneller, digitaler Kommu­ni­kation birgt ein enormes Potential, um Politik zu gestalten und mitein­ander gesell­schaft­liche Lösungen zu finden. Hilfreich ist dies auch, wenn man sich anschaut, was Politik heutzutage ausmacht: In vielen politi­schen Bereichen – von der Fiskal­politk bis hin zur Wirtschafts­po­litik – müssen Entschei­dungen immer schneller getroffen werden. Auch die außen­po­li­ti­schen Leitlinien der 70er und 80er Jahre sind so nicht mehr greifbar. Außer dem Bekenntnis zu Europa ist plötzlich alles relativ. Das „Denken mit Geländer“ (nach Hannah Arendt) wird immer undurch­führ­barer. Umso schwie­riger ist es also für Parteien, sich am eigenen Wahlpro­gramm zu orien­tieren. Diese Sammel­surien von Forde­rungen stellen immer stärker nur noch Moment­auf­nahmen dar, die nach der Wahl regel­mäßig wegver­handelt werden. Eine Orien­tierung für fünf Jahre ist schwer. Politiker, die dies nicht ehrlich kommu­ni­zieren, verlieren das Vertrauen der Bevöl­kerung. Angela Merkel machte mit ihrer atompo­li­ti­schen 180-Grad-Wende nach Fukushima umwelt­po­li­tisch den richtigen Schritt, verstieß damit aber gegen ihre Wahlver­sprechen und hatte dies noch nicht mal mit der eigenen Partei abgestimmt. Bei den Bürgern führt dies zu viel Unsicherheit. Wichtiger als konkrete Wahlver­sprechen wäre also das Kommu­ni­zieren einer Leitlinie, an der man seine politi­schen Entschei­dungen orien­tieren wird.

Wir vertreten eine gesunde Demokratie

Gerade weil sie sich nach Verläss­lichkeit und Ehrlichkeit sehnen, wird es in Zukunft noch wichtiger sein, auf die Struk­turen von Parteien zu schauen. Denn kein Partei­vor­sit­zender kann mit Sicherheit versprechen, die den Bürgern vermit­telte Leitlinie einzu­halten – dafür sorgen kann nur die Partei­basis und diese muss dafür einge­bunden werden. Allein beim Vergleich von FDP und Grünen sticht ins Auge, dass die grüne Partei noch immer basis­ori­en­tierter, weniger perso­nen­fi­xiert und unabhän­giger von ihren Parla­men­ta­riern ist. Kein Wunder also, dass sie seit geraumer Zeit in den Umfragen weit vor der FDP liegt. Doch die FDP ist exzellent darin, Feuer mit Feuer zu bekämpfen. Im Umfra­getief sägte sie ihren Partei­vor­sit­zenden ab, doch statt den Neuen von der Partei­basis auswählen zu lassen, wurde Philipp Rösler durch intrans­pa­rentes Geklüngel und Posten­ge­schacher schon Wochen vor seiner Wahl auser­koren. Bei den Piraten ist es normal, dass sich zahlreiche Personen auf das gleiche Amt bewerben und auch dass am Ende sogar zwischen gleich beliebten Bewerbern das Los entscheiden muss. Dies wird als gesunde Demokratie begriffen.

Liquid Democracy

Besonders wichtig ist aber, dass sich die Basis auch zwischen Wahlen und Partei­tagen ausrei­chend betei­ligen kann. Dazu werden ihr Betei­li­gungs­ele­mente, etwa aus dem Bereich Liquid Democracy, zur Verfügung gestellt, an die die Vorstände sich zu halten haben. So setzen die Piraten grüne Heran­ge­hens­weisen in radikaler Weise fort. Gleich­zeitig entwi­ckelt die Partei sich weiter, bleibt unabhän­giger von ihren Mandats­trägern und bietet die beste Möglichkeit, alte Ideen zu hinter­fragen, Neues auszu­pro­bieren und innovative Konzepte zu entwi­ckeln. Durch den hohen Einfluss der Basis ist gleich­zeitig aber auch gesichert, dass man sich an die piratigen Ideale hält. Und so wird auch die Politik aussehen, die die Piraten in den nächsten fünf Jahren in Berlin voran­treiben werden: Frisch, kreativ, kritisch und basis­be­stimmt. Wer aber an dieser Stelle enttäuscht ist, dass es keinen minuti­ösen Fahrplan für die angestrebten, kommenden Verän­de­rungen gibt, kann sich gleich­zeitig auch darüber freuen, dass er/sie selbst noch persönlich Einfluss auf den Prozess nehmen kann. Und das ist dann gleich­zeitig auch wieder die zu vermit­telnde Vision.

Ein Kommentar zu “Volle Kraft voraus!

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.