Plenarrede: Demokra­tische Grund­rechte in Ungarn!

Heute wurde im Abgeord­ne­tenhaus über unseren Antrag „Für die Stärkung demokra­ti­scher Grund­rechte und Werte in der EU – auch in Ungarn!“ abgestimmt. (Hier der Verlauf des Antrags.) Der Antrag hätte vor allem symbo­li­schen Charakter besessen, fordern aber zusätzlich den Senat auf, im Rahmen der Städ­te­part­ner­schaft mit Budapest auf die Einhaltung der Grund­rechte zu wirken. Trotzdem wurde er leider von der SPD/CDU-Koaliton abgelehnt. Hier ist meine Rede zu diesem Thema:

„Wir reden heute über einen gemein­samen Opposi­ti­ons­antrag zu den Grund­rechten im europäi­schen Raum, vor allem in Ungarn. Dieser Antrag ist keine Lappalie und kein Profi­lie­rungs­versuch. Er ist eine Notwen­digkeit. Notwendig geworden ist er wegen der wieder­holten und perma­nenten Verletzung und Aushöhlung der Grund­rechte in unserem EU-Partnerland in den vergan­genen Jahren.

Vor 8 Jahren sah das noch ganz anders aus. 2004 verbrachte ich einige Zeit als Erasmus-Student dort. Das war kurz nach dem Beitritt Ungarns zur europäi­schen Union. Eine Zeit des Aufbruchs und der Europa-Euphorie. 2010 wurde Pécs, die Stadt, in der ich damals studiert hatte, zur Kultur­haupt­stadt Europas. Zusammen mit dem Ruhrgebiet.

Leider ist von diesem Ungarn heute nicht mehr viel zu spüren. Die Euphorie ist einer Lethargie gewichen. Das Land ist gespalten. Die Zivil­ge­sell­schaft fühlt sich ausge­schlossen und ignoriert. In weiten Teilen der Bevöl­kerung herrscht das Gefühl vor, dass sich das Land in die falsche Richtung bewegt. Auf Groß­de­mons­tra­tionen versuchen Menschen Medien und das Ausland auf die Situation aufmerksam zu machen.

Im Juni 2012 konnte ich mir selbst ein BIld davon machen. Zusammen mit anderen Abgeord­neten war ich in Berlins Partner­stadt Budapest. Zu Gast bei verschie­denen Parteien konnten wir uns über die aktuelle ungarische Politik und die SItuation vor Ort austau­schen. Die Lage vor Ort zu sehen war noch schlimmer, als die Berichte es vermuten ließen. Ich erlebte ein Land, in dem wichtige Werte einer Demokratie keine Rolle mehr spielen.

Es begann direkt bei der Ankunft. Unsere Gastgeber der ungari­schen Opposi­ti­ons­partei LMP mussten ihren Zeitplan über den Haufen werfen, da die Parla­ments­mehrheit kurzfristig Haushalts­ver­hand­lungen angesetzt hatte. Dies geschah mit so wenig Vorlauf, dass man sich darauf kaum sinnvoll vorbe­reiten konnte. Doch das ist in Ungarn mittler­weile eher die Regel als die Ausnahme: Viele Anträge der Opposition werden gar nicht oder mit Monaten Verspätung beraten. Zudem benach­teiligt das neue Wahlrecht die kleinen Parteien massiv. Es behindert den Zugang von einigen Bevöl­ke­rungs­chichten zu den Wahlen und schwächt damit die Plura­lität. Viele gesell­schaftlich relevante Gremien werden von der Regierung nach ihrem Gutdünken neu geschaffen oder umgestaltet. Maßgeb­liche Posten werden streng nach Parteibuch und -zugehö­rigkeit vergeben.

Das neue Ungarn ist ein Land im Wandel. Und ein Land der Traumata. Nach den Traumata von Trianon 1919, dem Horty-Regime, der Besetzung durch die Nazis und die Sowje­tunion, welche teilweise verar­beitet wurden, kamen nun neue Traumata. Ein Trauma durch Politiker, denen man nicht traut und die mehr oder weniger offen zugegeben haben, die Bevöl­kerung zu belügen. Ein Trauma durch ständige Regie­rungs­wechsel. Ständige Regie­rungs­wechsel als Konse­quenz.
Ein Trauma durch Fehlspe­ku­la­tionen und Misswirt­schaft, welches Ungarn von einem aufstre­benden Land zu einem Bittsteller des IWF gemacht hat. Das Haushalts­de­fizit über­steigt quasi konti­nu­ierlich seit Beitritt zur EU die 3% Marke.

Diese Erleb­nisse und die aktuellen wirtschaft­lichen Schwie­rig­keiten haben zu einer schweren Identi­täts­krise geführt, die dadurch geheilt werden soll, dass man sich auf konser­vative Werte beruft. Man versucht sich zu besinnen auf die eigene Natio­na­lität, die eigene Rasse, die eigene antikom­mu­nis­tische Ideologie. Die Orbán-Regierung versucht, die konser­vative Inter­pre­tation der ungari­schen Geschichte für alle Bürger als verbindlich festzu­legen. Sie steht nun als Präambel in der neuen ungari­schen Verfassung von 2012.

Zudem versucht die Regierung, eine Abwahl der Regierung und eine Neuwahl des verhassten politi­schen Gegners so schwer wie möglich zu machen. So werden Insti­tu­tionen möglichst mit Verbün­deten und möglichst über die eigene Regie­rungszeit hinaus besetzt. Gesetze werden möglichst so abgesi­chert, dass eine neue Regierung sie nur mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit ändern könnte. Um all diese Ände­rungen umzusetzen, die mit Demokratie nicht mehr viel zu tun haben, wurden auch dunkle Brücken über­schritten. Es handelt sich um einen antide­mo­kra­ti­schen Umbau der Gesell­schaft. Und der Point of no Return rückt immer näher.

Eine Atmosphäre der Angst für Minder­heiten im Land ist Folge dieser Politik. Immer wieder kommt es zu rassis­ti­schen Über­griffen und Verba­lat­tacken, auch von Seiten der politi­schen Akteure gegen Minder­heiten im Lande. Juden sollen gezählt werden. Roma haben mit Verfolgung und Repres­sionen zu rechnen. Gegen Obdachlose wird vorge­gangen. Die sexuelle Vielfalt im Land ist bedroht. Der ‚Budapest Pride‘ und die ‚Eurogames 2012‘ konnten nicht störungsfrei abgehalten werden.

Nun kann ich verstehen, dass die Koalition und besonders die CDU als Schwes­ter­partei der FIDESZ, sich hier keinen Handlungs­bedarf einge­stehen will und es nicht für notwendig hält, sich dazu kritisch zu äußern. Aber bei der ungari­schen Bevöl­kerung steigt der Leidens­druck. Ich war im letzten Jahr selbst auf Demons­tra­tionen gegen die neue Verfassung, die Ungarn das Wort „Republik“ wegra­tio­na­li­siert hat. Und ich war auf Demons­tra­tionen gegen die Zwangs­sch­ließung des opposi­tio­nellen Radio­senders ‚Klubradio‘ und Einschrän­kungen der Presse­freiheit. Insofern ist Ihr partei­be­grün­detes Wegsehen hier fehlplat­ziert.

Wir reden hier auch nicht von einem Land, dass viele tausend Kilometer entfernt liegt. Wir reden von einem Land, das quasi nebenan liegt und das aufgrund unserer gemein­samen Geschichte aufs engste mit uns verbunden ist. Und ich wiederhole es gerne nochmal: Budapest ist seit vielen Jahren unsere Partner­stadt. Deshalb können wir bei dieser Entde­mo­kra­tie­sierung nicht länger einfach nur zusehen. Wir müssen uns einmi­schen. Wir Piraten stehen zur Europäi­schen Union. Wir stehen für eine starke Demokratie, Mitbe­stimmung durch die  Bürger und den Schutz von Minder­heiten.  Mit unserem Antrag wollen wir unsere Freunde vor Ort und all dieje­nigen, die sich gegen die Einschränkung ihrer Rechte wehren, unter­stützen. Reichen wir ihnen die Hand!“

(Es gilt das zu Protokoll gegebene Wort)