Warum ich gegen Liquid­Feedback gestimmt habe: EU-Daten­schutz

Dies ist eine kleine Geschichte über einen großen Erfolg für die Berliner Piraten­fraktion, ein gewisses Dilemma im Umgang mit Liquid Democracy-Instanzen und eine Entscheidung, von der ich denke, dass ich sie den Partei­mit­gliedern erklären sollte. Doch von Anfang an: Wie mittler­weile allgemein bekannt ist, nutzt die Piraten­fraktion für die Arbeit im Abgeord­ne­tenhaus Liquid­Feedback. Wir nutzen die Berliner und die Bundes­in­stanz. Im Januar 2011 habe ich im Grundsatz einer Vorlage von meinem Kollegen Simon Weiß zugestimmt, die einen Prozess definiert, wie dem System als Abgeord­neter gefolgt werden kann. Natürlich kann auch dieser kurze Text nicht auf jede Frage eine Antwort finden. Es bleiben Fragen offen: Was ist, wenn wir Abgeordnete versucht sind, Liquid­Feedback-Anträge ins Leere laufen zu lassen, indem wir sagen, dass es der falsche Zeitpunkt sei und diese ad infinitum verschieben? Oder: Was ist, wenn wir Anträge stellen, die im Grunde Liquid­Feedback-Initia­tiven wider­sprechen, wir dies aber einfach nicht anerkennen und behaupten, es handele sich hier um etwas anderes? Auch zu geringe Betei­ligung bzw. irrefüh­render Antragstext kann man monieren. Zur laufenden Klärung dieser Fragen gibt es momentan kein Gremium, zur absch­ließenden Klärung gäbe es nur den Landes­par­teitag. Aber zumindest enthält der obige Text die Selbst­ver­pflichtung, sich bei Ablehnung von Liquid­Feedback-Initia­tiven zu erklären. Und das tue ich hiermit. Doch zuerst zur Vorge­schichte:

Der Verlauf der Initiative, um die es hier geht, in Kürze:
Initiative wurde erzeugt am 11. Januar
Abstimmung Liquid am 13. Februar
Europa-Squad am 5. März
Privacy Barcamp am 9./10. März
Frakti­ons­sitzung am 13. März
Plenar­sitzung am 22. März
Bundes­rats­sitzung am 30. März

Und nun in lang: Anfang Januar wurde eine Initiative ins Liquid­Feedback-System des Bundes gestellt, die forderte, das Daten­schutz­niveau des Landes Berlin durch die Novel­lierung der EU-Daten­schutz­richt­linien zu erhalten und auszu­bauen, Initiative 1416. Der Autor der erfolg­reichen Initiative kontak­tierte die Fraktion im Februar, dass wir diese Initiative als Antrag ins Parlament einbringen sollten und erläu­terte uns die Hinter­gründe der Forderung auf der Sitzung des Europa-Squad am 5. März. (Hier das rudimen­täre Protokoll) Es geht dabei um folgendes: Viviane Reding ist momentan im frühen Stadium einer Verordnung zur Harmo­ni­sierung der verschie­denen europäi­schen Daten­schutz­ge­setze, um das Race to the bottom des Daten­schutz-Standard (Beispiel: Facebook in Irland) zwischen europäi­schen Ländern zu beenden. Verord­nungen sind ein neues Instrument, welches es erst seit der Inkraft­setzung des Vertrages von Lissabon 2009 gibt. Sie setzen geltendes niedri­geres Recht nach einer Kulanzzeit von 2 Jahren außer Kraft, das wäre dann frühe­stens 2016. Das ist ein Unter­schied zu Richt­linien, die nach Inkraft­treten in 3 Jahren in natio­nales Recht umgesetzt werden müssen; wers nicht tut, muss Strafe zahlen. (Sehen wir bei der VDS-Richt­linie, wenn das ne Verordnung wäre, gäbe vermutlich eine ganz andere Diskussion.) Der Autor der Initiative hat selbst Erfah­rungen in Brüssel gesammelt und steht dem ganzen aufgrund des massiven Einflusses von Lobby­isten auf Abgeordnete (das Verhältnis beträgt etwa 10 zu 1) sehr skeptisch gegen­über. Schon in den letzten Monaten sei zu beobachten gewesen, dass der ursprüng­liche Entwurf verwässert wurde, in den nächsten Monaten sei Schlimmes zu befürchten, lieber gleich ganz ablehnen und nur eine Richt­linie fordern, die dann Mindest­stan­dards vorschreibe, sodass Deutschland nicht Gefahr laufe, am Ende schlechter dazustehen. Ich sagte zu, mich damit zu beschäf­tigen und dies auf dem Privacy Barcamp von Jan Phillip Albrecht anzusprechen, wo dieses Thema eh disku­tiert wurde.

In Hannover beim Privacy Barcamp eröffnete mir Jan dann die Gegen­sicht: Um die Harmo­ni­sierung zu bewirken bräuchte man eine Verordnung, sonst hört das Race to the Bottom nicht auf. Momentan sieht die Verordnung auch inhaltlich noch recht gut aus. Noch wichtiger: Wir müssen es irgendwann mal schaffen, vernünftige Dinge auf der EU-Ebene in Bezug auf Bürger­rechte hinzu­kriegen, sonst kommen wir (europäisch gesehen) nie weiter. Dazu müssen wir uns aktiv einmi­schen, dafür eine Verordnung unter­stützen. Wenn wir niemals daran glauben, dass daraus auch etwas sinnvolles entstehen kann, ist das eine selbs­t­er­fül­lende Prophe­zeiung. Ich bin der Meinung, dass Grund­rechte am besten so positiv wie möglich auf der höchsten Ebene garan­tiert werden sollten, das spräche für diese Sicht­weise. Zudem kann man jetzt rote Linien definieren und erst wenn diese eindeutig über­schritten wurden, die Verordnung ablehnen und eine Richt­linie fordern (das ist auch am Ende des Prozesses noch möglich.) Dazu kommt noch, dass EdRi und zahlreiche andere Organi­sa­tionen eine Verordnung für sinnvoll halten und dass Jan Albrecht gerade zum Bericht­er­statter des Parla­ments für die Verordnung ernannt wurde, was ihre (und unsere) Chancen erheblich verbessert. Herzlichen Glück­wunsch dazu. Hier noch ein Brief von unserer EU-Parla­men­ta­rierin Amelia Anders­dottir, den sie uns am 14.3., also nach der Frakti­ons­sitzung geschickt hat. Trotzdem steht dies im Konflikt mit dem Autor und seiner Initiative. Daher rief ich ihn an, um zu fragen, ob das für ihn tragfähig sei. Als er verneinte, lud ich ihn ein, das auf der Frakti­ons­sitzung selbst mit der Fraktion zu besprechen.

So gab es also auf der 24. Frakti­ons­sitzung am 13. März zwei Anträge. Den eigent­lichen vom Autor. Und den Alter­na­ti­vantrag von mir, der besagt, zum jetzigen Zeitpunkt die Verordnung zu fordern und evtl. später abzulehnen, falls sie sich in eine uns nicht genehme Richtung entwi­ckeln sollte. Die Diskussion dauerte fast eine Stunde und ist hier (als PDF) nachzu­lesen oder hier nachzu­hören. Am Ende erfolgte die Abstimmung maximal knapp mit 6:5 Stimmen pro Liquid­Feedback-Antrag. Ich stimmte dagegen und für meinen eigenen. In der Endab­stimmung stimmten letzt­endlich 12 von 13 anwesenden MdAs (inklusive mir) für den Liquid-Feedback-Antrag.

Nun zu den Gründen für meinen Gegen­antrag auf der Frakti­ons­sitzung: Dabei ist festzu­halten, dass mein Ände­rungs­antrag ja ca. 90% des Antrags­textes beibe­halten und nur die Frage nach der Form des EU-Gesetzes verändert. (Die Form, von der übrigens von Anfang an klar war, dass sie am Ende des parla­men­ta­ri­schen Prozesses so aussehen würde, wie der Autor es vorschlug, da dies absehbar die Position der CDUSPD ist, aber das soll nicht das Argument sein.) In der Sache, also dass wir maximale infor­ma­tio­nelle Selbst­be­stimmung auf allen Ebenen wollen, waren wir uns ja auch alle einig. Wichtig zu erwähnen (wenn auch nicht zentral) ist, dass ich mir auch nicht sicher bin, ob diese Frage auch bei allen LF-Abstimmern so angekommen ist. Der Antrag ging zwar mit 104:8 Stimmen bei 12 Enthal­tungen (93%) recht deutlich aus. Auch durchlief er die vier Phasen mit ausrei­chend Zeit. Er hatte jedoch weder eine Anregung noch einen Gegen­antrag, an dessen Zustim­mungswert man sich hätte orien­tieren können. Auch wurde im Antrag nicht besonders kenntlich gemacht, dass es sich hier vor allem um die strate­gische Frage drehte, nicht um die inhalt­liche. Die jeweilige Motivation der Zustim­menden ist also in Teilen ungewiss. Da es hier also nicht um einen inhalt­lichen, sondern nur um einen strate­gi­schen Konflikt handelte, finde ich es angemessen, dass sich die Fraktion, die besonders stark in den parla­men­ta­ri­schen Ablauf einge­bunden ist, hier stärker einbringt. Um das nochmal deutlich zu sagen: Mir geht es nicht darum, Liquid­Feedback zu entwerten, sondern lediglich darum stärker heraus­zu­kris­tal­li­sieren, wozu genau es eigentlich gut und wozu es weniger gut geeignet ist. Ich sehe die Fraktion vor allem als parla­men­ta­risch steuerndes und koordi­nie­rendes Organ, welches seine Ressourcen und Kontakte nutzt, um die Partei zu entlasten. Und bei inhaltlich strit­tigen Fragen (Was fordern? In welche Richtung geht’s?) wiegt eine Abwei­chung von Liquid­Feedback daher für mich auch wesentlich schwerer als bei strate­gi­schen Fragen (Wie konkret sich festlegen? Wann fordern? Mit wem zuerst verhandeln?). Im Zweifel werde ich mich natürlich weiterhin nach dem Ergebnis von Abstim­mungen bei Liquid­Feedback richten. Und noch eine kleine Anmerkung: Die gleiche Abstimmung ohne das beste­hende Ergebnis von Liquid­Feedback wäre sicher anders herum ausge­gangen.

Da ich nun also erklärt habe, dass ich eher vertreten kann, bei strate­gi­schen Fragen von Liquid­Feedback abzuweichen als bei inhalt­lichen, erkläre ich nun meine Gründe für die strate­gische Abwei­chung. Die drei Knack­punkte waren dabei:
1. Wann wollen wir anfangen, darauf zu vertrauen, dass es gelingen wird EU-Gesetze aus dem Bereich Bürger­rechte so zu beein­flussen, dass wir damit gut leben können? (Irgendwann müssen wir halt damit anfangen!) Antwort: Wann, wenn nicht jetzt, wo Jan Albrecht „Mr Anti-Swift“ Bericht­er­statter des Parla­ments ist?
2. Wie können wir am besten Einfluss nehmen auf den Inhalt der Verordnung? Antwort: Das geht meiner Ansicht nach am besten dadurch, dass man der Verordnung offen gegen­über steht. Man kann rote Linien ziehen, nach deren Über­schreiten man die Verordnung ablehnt, ohne sich dadurch Optionen zu verbauen.
3. Welche roten Linien sollte man für die Erarbeitung der Verordnung ziehen? Antwort: Das kann ich so im Detail hier nicht beant­worten. Unstrittig ist aber, dass sie zum jetzigen Zeitpunkt (noch) nicht über­schritten sind.

Zum weiteren Verlauf: Der Antrag wurde ins Plenum einge­reicht, SPD/CDU brachten einen Ände­rungs­antrag (hier unser Ticket mit Link zu Antrag und Ände­rungs­antrag) ein, der den Antrag von der Form aber nicht von der Stoßrichtung verän­derte (sie verlangen eine Subsi­dia­ri­täts­rüge gegen die EU) und nahmen ihn nach leichter Konfusion (wir mussten ihnen erstmal erklären, dass sie am Ende für den geän­derten Piraten­antrag stimmen müssen) an mit unseren und den Stimmen der Linken und gegen die Stimmen der Grünen. (Hier ist das Plenar­pro­tokoll als PDF.) Diesen Freitag wird das Thema auf der Tages­ordnung des Bundesrats stehen und Wowereit wird dabei im Kern die Position vertreten, die im Januar ins Liquid­Feedback einge­tippt wurde, was natürlich ein schöner Erfolg ist.

;tl dr: Bei der Benutzung von Liquid Democracy Tools sollte man sich fragen, ob Anträge inhalt­liche, organi­sa­to­rische oder strate­gische Fragen betreffen. Bei strate­gi­schen Fragen ist die Ablehnung weniger schwer­wiegend als bei inhalt­lichen. Ablehnung von Initia­tiven durch Parla­men­tarier bedürfen gemäß unserer Selbst­ver­pflichtung generell der Erklärung. EU-Daten­schutz sollte gestärkt und am besten auf der obersten Ebene angesiedelt sein, dazu wäre eine Verordnung (setzt Gesetze auf natio­naler Ebene außer Kraft) am sinnvollsten.

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