Die Vorlage zur Rede zum Piratigen Aschermittwoch am 22. März 2012 in Ingolstadt. Ähnlichkeiten zu lebenden Personen sind rein zufällig. Es gilt…der Humor am Aschermittwoch.
Jetzt ist es also so weit. Die Piraten sind erstmals in einem Landesparlament vertreten. Die Reaktionen der anderen Parteien waren einhellig: „Die sollen erstmal in der Realpolitik ankommen!“ sagten sie.
Allzu gerne. Aber was meinten sie denn damit überhaupt? Was war diese vielbeschriebene und uns bis dahin anscheinend noch gänzlich unbekannte „Realpolitik“. Wie sah sie aus?
Gespannt kamen wir im Abgeordnetenhaus von Berlin, dem ehemaligen Preussischen Landtag an. Wir wollten unsere neuen Räume inspizieren, um dort nach allen eventuellen Indizien über diese ominöse Realpolitik zu suchen. Doch das gestaltete sich als schwieriger als gedacht. Es gab da noch eine gewisse Anti-Euro-1,8%-Partei, die nun aufgrund ihres fabelhaften Wahlergebnisses der Liquidation preisgegeben war. Und während wir uns also voller Erwartung auf die Suche nach der Realpolitik machen wollten, konnte die FDP gar nicht genug davon bekommen. Sie konnten sich einfach nicht lösen. Eigentlich sollte man denken, von Privatisierung verstehen sie was. Doch sie schafften es nicht so richtig, ihr Mobiliar zu verscherbeln. Und bis heute, 5 Monate nach ihrer Abwahl, klammert sich ein kleines, liberales Dorf noch an ihren letzten Habseligkeiten in diesem Haus fest.
Nun – vielleicht würden wir im Plenarsaal etwas über die Realpolitik herausfinden. Da man dort nicht alle vorderen Sitzreihen bekommen kann (wir haben gefragt), verorteten wir uns in der Mitte, zwischen Grünen und Linken. Doch die CDU handelte getreu dem Motto „Die Besitzstandswahrung ist unantastbar“ und verhinderte, dass unsere Fraktion Sitzplätze in der Mitte des Plenums bekommt, weil sie dafür ein bisschen weiter an den rechten Rand gerückt wären. An den rechten Rand? Das wäre ja auch zu abstrus gewesen. Angesichts der Ausdehnung der Speicherfristen zur Videoüberwachung in Bussen und Bahnen von 24 auf 48 Stunden und des Unterbindungsgewahrsams (vorbeugende Inhaftnahme) von 2 auf 4 Tagen, der Verhinderung des Wahlrechts für Ausländer und 16-jährige. Dabei erinnern wir uns doch an den berühmten Ausspruch von Franz Josef Strauß: „Rechts von der CSU darf es keine demokratisch legitimierte Partei geben“ Nunja, diese bayerische Weisheit scheint in Berlin noch nicht angekommen zu sein. So wurden die liebgewonnenen Sitzplätze verteidigt, wir nach rechts außen platziert.
Nun begann endlich unsere erste Plenarsitzung. Die war allerdings etwas zu realpolitisch bzw. laut. Alberne Zwischenrufe, demonstrative Lustlosigkeit und mutwilliges Stören vermittelten eher den Eindruck eines unbehüteten Kindergartens als die Zusammenkunft der Legislative Berlins. Besonders laut waren die Gespräche der CDU, die nun neben uns saß und den Eindruck machte, dass sich ihre Mitglieder grundsätzlich nur an den zweiwöchentlichen Plenartagen sahen. Wir reagierten auf unsere eigene Art und Weise – und schenkten dem frisch ernannten neuen Fraktionsgeschäftsführer (zu englisch „whip“) einen Gegenstand, mit dem er seine Fraktion zur Räson bringen sollte: Ein LART (=Luser´s attitude readjustment tool oder auch Kabelpeitsche). Leider half dies anscheinend nicht viel. Es werden wohl für uns nicht zu verstehende realpolitische Gründe gewesen sein, die verhindert haben, dass die CDU unseren Reden aufmerksam lauschte.
Doch wir ließen uns nicht entmutigen und freuten uns auf die Haushaltsberatungen. Ein Parlament, das lernten wir in der Schule, hat die Befugnis des Budgetrechts. Wir arbeiteten uns ein und erwarteten umfangreiche Beratungen zur Ausübung unseres Hoheitsrechts. Stattdessen … bekamen wir vom Senat ca. 2000 Seiten voller knapp erklärter Zahlen, für deren Verständnis wir auch noch maximal wenig Zeit hatten. „Noch Fragen?“ Oh ja, die hatten wir. Wir erarbeiteten 26 Seiten mit Fragen, alleine an den Innensenat. Das mochten nun wiederrum die anderen Fraktionen nicht. Auf lange Beratungen hatten sie irgendwie keine Lust. Sie wollten nur kurz ihre Plädoyers loswerden und nicht ewig beraten. Alle gemeinsam hatten sie lediglich 8 Seiten angefertigt. Realpoiltik heißt nämlich, die Regierung arbeitet den Haushalt aus, die Abgeordneten schauen da mal drüber, dürfen ein bisschen meckern und eventuell werden ein paar Kleinigkeiten geändert. Aber das mussten wir natürlich noch lernen. Schließlich waren wir noch nicht so ganz angekommen in der Realpolitik.
Wir versuchten mal was anderes. Vielleicht konnten wir von den Grünen lernen. Immerhin waren die auch erst 30 Jahre dabei. Vielleicht konnten sie uns aufgrund eigener Erfahrungen besser erklären, was diese ominöse Realpolitik ist. Aber das gestaltete sich schwieriger als man denkt. Immer wenn wir mal jemand kennen gelernt hatten, war der schon wieder zurück getreten. Zuerst war plötzlich der Fraktonschef und selbsternannte Oppositionsführer Volker Ratzmann weg, sodass die grüne Doppelspitze nun Single ist. Und nun wurde auch der Posten des Parlamentarischen Geschäftsführers vakant. Der Nachrücker dafür heißt Benedikt Lux. Der ehemalige Krawalllinke ist bereits standesgerecht von Neukölln in das Anarchoviertel Steglitz gezogen. Als die Streitigkeiten in der Grünenfraktion zwischen Linken und Realos aufkamen, platzierte er sich konsequent – nämlich nirgends. So viel Tatkraft und Entschlossenheit zeichnet einen Oppositionschef aus – zumindest in der Berliner Realpolitik.
Einen weiteren Erfolg kann Lux verbuchen. Bei der Wahl der Brigitte zum deutschen Obama erreichte er 4%. Das war immerhin mehr als sein Kontrahent, Sven Kohlmeier von der SPD. Dieser erzielte lediglich 3%. Dieser fiel uns auf, weil er auf der allerersten Sitzung eines unserer Protokoll-Pads ausgedruckt hatte und es uns stolz vorhielt, dabei allerdings zugab, es nicht verstanden zu haben. Und jetzt ratet mal, wer netzpolitischer Sprecher der SPD ist.
Kohlmeier rühmt sich übrigens auf seiner Webseite, der erste gewesen zu sein, der auf die Gefahren von Google Street View hingewiesen hat. Im Gegensatz sprach er sich dann aber für mehr Überwachung im Öffentlichen Nahverkehr und an den Berliner Schulen aus! Jetzt ratet mal, wer in der SPD der Sprecher für Datenschutz ist.
Als netzpolitischer Sprecher musste Kohlmeier natürlich auch auf Twitter präsent sein. Da wir ihn dort nicht fanden, legten wir ihm freundlicherweise ein Profil an, welches er bis heute nutzt. Dafür gab Kohlmeier uns im Plenum wertvolle Tipps. Im Bereich Transparenz empfahl er uns unsere Nebeneinkünfte offenzulegen. Er selbst sei da bereits Vorbild. Jetzt ratet mal, wer auf seiner Webseite ganz transparent notiert, er habe monatliche Nebeneinkünfte in Höhe von 1000 bis 7000 Euro. Die Erklärung für diese unterhaltsame kognitive Dissonanz kann ja nur die kosmische Strahlung sein. Oder – es ist wahre Realpolitik.
Wir entschieden: Die Realpolitik kennenlernen, kann man sicherlich am besten, wenn man sich mal die Profis anschaut, die SPD und CDU in den Senat, also die Regierung von Berlin schickten. Die CDU ernannte als Verbraucherschutzsenator den Herrn Braun. Herr Braun ist ein ganz prima Verbraucherschützer, denn er kann die Verbraucher vor jedem einzelnen windigen Immobilienhai in ganz Berlin warnen. Die kennt er nämlich alle persönlich, weil er schon mit ihnen Geschäfte gemacht hat. Ärgerlich, dass weder Opposition noch Medien diese Qualifikation wirklich zu schätzen wussten. Empört ob dieser mangelnden Anerkennung trat er bereits nach 11 Tagen zurück. Spätestens jetzt merkten wir, was für einen hervorragenden Juristen wir damit verloren hatten. Denn dadurch dass er seinen Rücktritt offiziell als „Entlassung“ bezeichnete, verdiente er sich für die eine überaus anstrengende Arbeitswoche ein saftiges „Übergangsgeld“ in Höhe von 50.000 Euro. So viel Realpolitik überzeugte uns.
Zumindest mehr als die Arbeitssenatorin. Die forderte nämlich immer nur ganz theoretisch mehr Qualifizierung für Arbeitslose. Aber warum denn nur fordern? Man kann kann das doch auch einfach ganz praktisch umsetzen. Der Abgeordnete und Arbeitsmarktexperte Dirk Stettner macht es vor. Seine Firma soll Behinderte in den ersten Arbeitsmarkt vermitteln. Allerdings nimmt Herr Stettner das mit der Bezahlung wohl nicht so genau, weshalb die Staatsanwaltschaft nun wegen des Verdachts des Betruges, der Insolvenzverschleppung und der Vorenthaltung von Sozialleistungen gegen ihn ermittelt. Ein Missverständnis! Er wollte er die Leute doch gar nicht bezahlen, sondern sie qualifizieren! Bis dies aufgeklärt ist, lässt Stettner alle seine Ämter ruhen. Genauso übrigens wie sein Kollege Rainer Michael Lehmann vom SPD-Fraktionsvorstand. Gegen diesen wird wegen der Erschleichung eines Bankkredits durch falsche Einkommensangaben ermittelt.
Nun gingen wir einmal so richtig in uns und schauten uns an, wieviel Realpolitik dieses Kalibers wir bis dahin wirklich zu bieten hatten. Außer unserer Twitter-Avatar-Bilder und ein paar falsch versendeter Emails fiel uns jedoch nicht so richtig viel ein. Und das war dann auch der Moment, wo wir erkannten: Von diesem Niveau an Realpolitik würden wir noch lange Zeit weit entfernt bleiben. Aber vielleicht – nur vielleicht – kann das auch ruhig noch eine Weile so bleiben. Und vielleicht wollen wir diese Art der Realpolitik ja auch gar nicht finden.