Im Gegensatz zu den USA oder dem Vereinigten Königreich wird die Zusammensetzung des zukünftigen Berliner Abgeordnetenhauses komplett durch die abgegebenen Zweitstimmen beeinflusst. Die Erststimmen haben darauf keinen Einfluss. Dementsprechend wenig Energie verwenden die Parteien auf den Erststimmenwahlkampf. Auch wird im Wahlkampf selten unterschieden, welche Stimmen man bevorzugt, da die wenigsten WählerInnen bei der Stimmabgabe durch sogenanntes Stimmensplitting unterscheiden. Ein Plakat „Wählt Grüne, außer mit der Direktstimme!“ wird man nicht sehen. (Obwohl es gelegentlich Absprachen geben soll.)
Für die jeweils direkt Antretenden kann die Stimme aber natürlich einen großen Unterschied machen oder auch Karrieren jäh beenden. Wie etwa beim ehemaligen Landeschef Jan Stöß, der im Bezirk Mitte in Wahlkreis 2 gegen Carola Bluhm von den Linken antritt, aber nicht über die SPD-Bezirksliste abgesichert ist. Manche Kandidierenden leisten schon seit vielen Jahren großartige Arbeit im Abgeordnetenhaus, haben aber keine oder nur geringe Chancen, über die Parteien einzuziehen und ihre Arbeit dort fortzusetzen. Hier ein kurzer, extrem subjektiver Überblick über Kandidierende, die ich selbst kennenlernen durfte und bei denen sich ein Stimmensplitting anbieten würde.
Alle Direktkandidierenden könnt ihr euch hier anschauen, ihre jeweiligen Chancen laut Wahlumfrage vom 12.9. hier.
Friedrichshain-Kreuzberg 1: Björn Eggert
Natürlich unterstütze ich in WK 1 meinen PRTXHN-Kollegen Ulli Zedler. Aber wer partout nicht Piraten wählen will oder eh schon immer grün gewählt hat, sollte mal darüber nachdenken, mal einen SPD-Kandidaten zu wählen.
Björn Eggert ist nicht unbedingt der sichtbarste Abgeordnete und seine Tweets nicht immer grammatikalisch fehlerfrei. Aber er legt sich für seine Themen Jugend und Familie ins Zeug ist für die Menschen ansprechbar. Dabei scheut er auch interfraktionelle Zusammenarbeit nicht. Dass beispielsweise der Antrag gegen die Diskriminierung von Flüchtlingskindern bei der Kitaplatzvergabe im Parlament angenommen wurde, ist auch ihm zu verdanken. Beim Runden Tisch Kreuzberg ist er neben mir der einzige Abgeordnete, der sich dafür den Kalender frei macht, was ich ihm hoch anrechne.
Durch seine Niederlage auf dem Kreisparteitag gegen Sven Heinemann steht er nur auf dem wenig aussichtsreichen vierten Listenplatz. Und da seine Karrierechancen als Stößianer aktuell eher überschaubar sind, würde er der Politik bei einer Niederlage wohl erst einmal ganz verloren gehen. Das wäre schade. Seine Gegenkandidatin Kathrin Schmidberger auf der anderen Seite wird dem AGH durch ihren 17. Platz auf der Landesliste definitiv erhalten bleiben.
Friedrichshain-Kreuzberg 4: Clara Herrmann
Ich oute mich direkt mal als Fan der Arbeit von unserem Stadtentwicklungsexperten, Fraktionsvorsitzenden und WK 4-Kandidaten Ralf Gerlich. Und mit den Umfragewerten von 2011 wäre vielleicht auch mal ein Friedrichshainer Direktwahlkreis für die Piraten zu holen. Aber aktuell ist das wohl eher nicht drin. Wer also noch hin und her gerissen ist, sollte bedenken, dass die grüne Clara Herrmann gar nicht auf ihrer Landesliste steht. Grund dafür war wohl, dass die Frauen in den beiden sich nicht einigen konnten. Mehr spekuliert wird in diesem aktuellen Portrait über sie.
Unabhängig davon was nun stimmt, würde ihre Arbeit den Grünen und dem AGH definitiv fehlen. Zum Einen als Sprecherin gegen Rechtsextremismus, in dem sie Standfestigkeit und Sachkundigkeit bewiesen hat – in Zeiten, in denen jeden Tag drei Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte erfolgen, sollte das nicht sein! Und zum anderen als meine Hauptausschuss-Kollegin und finanzpolitische Sprecherin, die dann zusammen mit dem Zahlen-Guru Jochen Esser gemeinsam rausrotieren würde. Jetzt wo demnächst mit „SIWA 3“ wieder ein neuer Nebenhaushalt gebildet wird, braucht es eher mehr als weniger Finanzexpertinnen. Ihre Abschiedsrede hat sie schon gehalten, da der WK 4 der einzige Wahlkreis ist, in dem die Grünen wenig Sonneblume sehen. Dabei sind Steffen Zillich (Linke) und Susanne Kitschun (SPD) Seite über ihre jeweiligen Listen abgesichert und bleiben dem AGH in jedem Falle erhalten.
Pankow 5: Sören Benn
Ich kenne Sören von der Arbeit im Arbeitsausschuss, in dem er seit 2013 als Referent für die Themen Wirtschaft, Arbeit, Integration & Partizipation zuständig ist.Von 2010-2011 war er persönlicher Referent von Wirtschaftssenator Harald Wolf und danach Mitarbeiter des Bundestagsabgeordneten Thomas Nord. Auf der Landesliste ist er gar nicht. Zusammen mit Niklas Schrader ist er von zwei wählbaren linken Fraktionsmitarbeitern.
Sein SPD-Kontrahent Torsten Schneider, schon zweimal Wahlkreissieger, finanzpolitischer Sprecher und Parlamentarischer Geschäftsführer, ist natürlich über die Liste (Platz 2) abgesichert. Laut Election.de ist Pankow 3 äußerst umkämpft, das heißt Schneiders Thron könnte kippeln und Sören bald selbst im Ausschuss das Wort ergreifen.
Lichtenberg 5: Ole Kreins
Die SPD ist ja so ein bisschen wie der nervige Onkel auf der Familienfeier: Nimmt dich nicht ganz ernst, weiß alles besser und tut immer so, als wenn ihr die ganze Party gehört. Und genauso ist auch Ole Kreins. Eigentlich kann ich mich an kein Gespräch erinnern, wo er mir nicht mit seiner bräsigen Art auf die Nerven gegangen ist. Aber Politik ist halt nicht nur Sympathiepunkte abgreifen, sondern ein bisschen mehr als das. Ole ist nicht nur sehr kompetent in der Verkehrspolitik, sondern auch ehrlich im Umgang und hält sich an Absprachen. Da Andreas Geisel jetzt gänzlich auf die Landesebene wechselt und Platz 2 ein Frauenplatz ist, bleibt dem Kreisvorsitzenden nur der schwer vermittelbare dritte Platz auf der Bezirksliste.
Und ja, ich finde die Verkehrspolitik der SPD auch grauenvoll. Aber dadurch dass deren Abgeordneten noch weniger Ahnung davon haben, wird sie auch nicht besser. Wenn ihr also wollt, dass LiHo WK 5 gleich von drei guten Leuten vertreten wird, dann gebt euch nen Ruck und wählt Ole Kreins. Denn seine Kontrahentin Hendrikje Klein ist Platz 3 der linken Landesliste, Stefan Taschner Platz 6 der grünen.
Tempelhof-Schöneberg 4: Markus Klär
Der „CDU-Rebell“ ist, wenn es gerade nicht um Tempelhof geht, eigentlich eher ein sehr fleißiges Arbeitstier im Hauptausschuss.
Dort spricht er auch mal Klartext und lässt der Verwaltung – unabhängig von der Parteizugehörigkeit – nicht alles durchgehen. Ansonsten ist er verlässlicher Ansprechpartner für alle Anliegen von innerhalb und außerhalb des Parlaments. Nebenbei arbeitet er noch in einer Brandenburger Behörde und kämpft als Vorsitzender der Lesben und Schwulen-Union für die rechtliche Gleichstellung.Wie er das alles zeitlich schafft und dabei auch noch Bodenhaftung bewahrt und warum er das nicht bei einer richtigen Partei tut, entzieht sich meiner Kenntnis. Leider ist seiner Partei das alles nur ein Platz 5 auf der Bezirksliste wert. Von daher ist die Wahl nämlich recht einfach. Denn sein SPD-Kontrahent ist der Regierende Michael Müller, der eh über die Bezirksliste abgesichert ist und der als Bürgermeister wohl auch keine ernsthafte Zeit für ein Mandat hat (dass die Vermischung von Exekutiv- und Legislativfunktion ist vielen Staaten unzulässig ist, kommt noch hinzu). Insofern ist TS 4 tatsächlich ein Wahlkreis, wo man mal experimentieren kann – zum Beispiel durch ein Stimmensplitting zugunsten von jemandem dieser etwas sonderbaren Westpartei.
Das war eine kurze Übersicht über Kandidierende, die dem nächsten Abgeordnetenhaus fehlen würden. Falls ihr Kommentare oder Hinweise habt, oder selbst Leute kennt, die noch fehlen würden, her damit.
Hallo, zunächst: Danke für diese Empfehlungen und diese Einblicke zu diesen Abgeordneten. Das war sehr aufschlussreich und hilfreich.
Könntest du allerdings noch die Lizenzangaben für die Bilder ergänzen? Das wäre nicht nur lizenzrechtlich notwendig, sondern auch eine Wertschätzung gegenüber den (größtenteils) ehrenamtlichen Fotograf*innen.
Danke.