Dieses Silvesterfest werde ich nicht wieder in Berlin verbringen. Ich werde verreisen. Und zwar nach Budapest. Aber nicht aus einem fröhlichen Anlass, sondern aufgrund aktueller, bedenklicher Entwicklungen.
Vor ziemlich genau 12 Monaten bat ich einen ungarischen Freund, mir die politische Situation in Ungarn aus der Innensicht eines aktiv-politischen Menschen darzulegen. Seine Antwortmail entsetzte mich. Er schrieb mir unter anderem: „[…] this power-hungry group with an over 2/3 majority is raping this nation and feeling good. They are taking our private pension savings, they don’t seem to be able to solve any economic and social problems, and they are ruling our media just months after taking over. […] It’s quite a grim situation, but we [in diesem Fall die linksliberale Partei LMP] have to survive and prove that there can be alternatives to the corrupt-powerhungry-dumb current political gangster elite.“
Jetzt, ein Jahr später, sieht die Situation nicht besser, sondern eher noch schlimmer aus: Im April beschloss Ministerpräsident Orban eine neue Verfassung für das Land, an der sich die Opposition und die Zivilgesellschaft faktisch nicht beteiligten. In dieser wird das Verhältnis der Bürger und Parteien zum Staat, die Stellung des Verfassungsgerichts und der Ungarn zu ihrer Geschichte neu definiert. Wer denkt, der Absatz in der NRW-Verfassung mit dem Gottesbezug sei kontrovers und vielleicht überflüssig, der wird sich freuen über einen patriotischer Text, bei dem Familie, Glauben, Treue und Nationalstolz unter Schutz gestellt werden, auch wenn dadurch Bürgerrechte eingeschränkt werden sollten. In der Präambel wird eine umstrittene, nationalkonservativ bis reaktionäre Interpretation der ungarischen Geschichte in Verfassungsrang versetzt. Jeder, der dagegen verstößt oder in der Schule davon abweichendes lehrt, kann nun angeklagt werden.
Aber viel schlimmer: Auch das gesamte Steuersystem inklusive einer Flat Tax von 16 %, die nationale Schuldenbremse von maximal 50% des BIP und das aktuelle Medienrecht werden in den Verfassungsrang gehoben. Das heißt im Extremfall, solange das Defizit mehr als 50% des BIP beträgt (was sehr lange sein wird), kann das Verfassungsgericht jedes Gesetzesvorhaben der zukünftigen Regierung kippen, so dass zukünftige Regierungen bzw. Parlamentsmehrheiten auch nach einem Machtwechsel elementare Befugnisse wie Steuer- und Haushaltsrecht nicht ausüben können. Zumindest nicht, ohne vorher die Verfassung zu ändern, wozu sie in zwei aufeinander folgenden Legislaturperioden über eine Zwei-Drittel-Mehrheit verfügen müssten. Zusätzliche Schutzmechanismen gegen Änderungen an der von Fidesz erdachten Verfassungsversion bieten Gremien wie der Generalstaatsanwalt, die nach ihrer baldigen Neubesetzung für neun Jahre im Amt sind. (Mehr zu den bisherigen Punkten und weitere Highlights im Verfassungsblog.)
Dann sind in den letzten Monaten noch einige Klöpper beschlossen worden, gegen die es schon mehrere Proteste gab und die daher auch im Ausland Beachtung fanden:
Neues Mediengesetz: Es wird eine neue Behörde – die NMHH – eingerichtet. Von dieser sind alle ungarischen Medien finanziell abhängig. Sie kann also auch private Fernseh- und Rundfunksender sowie Zeitungen und Internetportale unter ihre Kontrolle nehmen. (Mehr dazu bei Netzpolitik.org) Etwa tausend ungenehme Journalisten haben bereits durch die Regelungen dieses Gesetzes ihren Job verloren.
Neues Wahlrecht: Die Anzahl der Abgeordneten wird von derzeit 386 auf dann 199 Mandate reduziert, die Zuschneidung der Wahlkreise erfolgt zugunsten der Fidesz. Die Kandidaten brauchen nun tausend Unterschriften statt wie bisher 750, um antreten zu können, was die Arbeit kleinerer Parteien erschwert.
Neues Zentralbankgesetz: Die Regierung in Budapest liegt seit längerem im Streit mit dem Notenbankchef Andras Simor. In einem auch von der EZB beanstandeten Gesetzentwurf will sie die Kompetenzen des Notenbank-Gouverneurs beschneiden und einen weiteren Stellvertreter installieren. Wegen ähnlicher Bedenken hatten die EU und der Internationale Währungsfonds am Freitag Vorgespräche mit Ungarn über ein Rettungspaket abgebrochen. Bereits 2010 waren Gespräche mit dem IWF überraschend abgebrochen worden. Orbans Egozentrik, seine internationale Unzuverlässigkeit und Irrationalität führten in Kombinationen mit einigen Fehlentwicklungen in Ungarn natürlich schon zu fiskalischen Problemen. Die Staatsverschuldung betrug 2009 98,0 Mrd. US-Dollar oder 78,0 % des BIP. Am 21.12.2011 stufte S&P Ungarn von der Note BBB-/A-3 auf BB+/B (mit negativen Aussichten). Das ist – brutal fiskalisch gesprochen – quasi Ramsch.
Gegen all diese Fehlentwicklungen gleichzeitig zu demonstrieren ist quasi unmöglich. Als Problem werden nicht einzelne Gesetze identifiziert, sondern die Regierung Orban, die sich aus den ungarischen Macht- und Geldressourcen bedient wie aus einem Gemischtwarenladen und aus ihrer Zweidrittelmehrheit im Parlament (wobei dies nur 53% der Stimmen bei der Wahl waren) das Recht ableitet, eine „konservative Revolution“ durchzuführen, die die noch zarte Demokratie in Ungarn dauerhaft verändern wird. Nicht ohne Grund haben also die Oppositionspolitiker in den letzten Tagen erklärt, Fidesz habe jetzt endgültig die Grenze zwischen Rechtsstaat und Diktatur überschritten. (Siehe dazu den Bericht der Tagesschau vom 23.12.)
Fraglich ist nun, wie man aus diesem quasi-diktatorischen Zustand noch ausbrechen kann. Die Europäische Union hätte viel früher und viel mehr tun müssen, um diesen Zustand zu verhindern. Für uns Piraten als Neuparlamentarier ergibt sich nun nur noch die Möglichkeit, uns mit den Oppositionspolitikern der LMP und der MSZP solidarisch zu zeigen und aus den Vorgängen in Ungarn zu lernen, was in einer Demokratie schief laufen kann. Daher werde ich vom 30. Dezember 2011 bis zum 2. Januar 2012 in Budapest sein und dort Termine wahrnehmen. Im Gegensatz zu unserer Reise nach Island, wo wir die „Beste Partei“ besuchten, die 2010 als stärkste Kraft ins Rathaus Reykjaviks einzog, werden wir diesmal kein Land im Aufbruch erleben, sondern im Rückzugsgefecht. Unsere Unterstützung in diesem Gefecht wird vermutlich leider eher gering ausfallen, unsere Erfahrungen daraus können jedoch ungleich größer sein.