„Kein vernünftiger Mensch kommt auf die Idee, jemand nach Syrien abzuschieben […]“
(Thomas Kleineidam, Innenpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion, in der 9. Plenarsitzung des Berliner Abgeordnetenhaus am 23. Februar 2012 zum Antrag „Abschiebung nach Syrien sofort stoppen“)
„Anzahl der Abschiebungen nach Syrien im Januar 2013: 1“
(Frank Henkel, Innensenator, in der Antwort auf die Anfrage des Abgeordneten Fabio Reinhardt vom 23. Februar 2013)
Das führt uns wohl zur einzig möglichen Interpretation: Der Innensenat ist mindestens unvernünftig, vielleicht sogar geisteskrank. Zumindest nach Darstellung der SPD…
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Im Anschluss noch einige weitere Zitate. Aus dem Plenarprotokoll der obigen Sitzung von Februar 2012 (S. 643-646):
„Ich glaube, es ist völlig unstrittig hier im Haus, dass bei der gegenwärtigen Lage in Syrien niemand dorthin abgeschoben werden kann. Ich kenne auch niemanden, der irgendetwas Gegenteiliges fordert.“
(Thomas Kleineidam, Innenpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion)
„Aber noch einmal: Wenn Sie behaupten, wir hätten ein Problem mit Abschiebungen nach Syrien, dann liegen Sie daneben.“
(Thomas Kleineidam, Innenpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion)
„Wer die Menschenrechte mit Füßen tritt und sich an die Macht klammert – unter dem Verlust von Menschen und in einem Krieg gegen die Zivilbevölkerung –, der kann natürlich niemand sein, zu dem die Bundesrepublik Menschen zurückschiebt. Das ist vollkommen klar. Deshalb gibt es seit dem April 2011 eine entsprechende Anweisung des Bundesamtes für Migration
und Flüchtlinge.“
(Robbin Juhnke, Innenpolitischer Sprecher der CDU-Fraktion)
„Das Land Berlin führt diese Praxis nicht durch. Insofern bedarf es auch gar nicht einer solchen Regelung, und insofern gibt es auch gar keinen Handlungsdruck an dieser Stelle, um heute einen dringlichen Antrag zu diskutieren oder gar zu beschließen.“
(Robbin Juhnke, Innenpolitischer Sprecher der CDU-Fraktion)
Und aus dem Inhaltsprotokoll des Innenausschuss am 5.11.2012:
„im Rahmen eines Umlaufbeschlusses der Innenministerkonferenz aus dem Frühjahr sei bereits ein Abschiebungsstopp
nach Syrien vorgesehen. Dieser sei im September um weitere sechs Monate verlängert worden. Damit seien Abschiebungen nach Syrien weiterhin bundesweit ausgeschlossen.
In Berlin würden für den durch den Abschiebungsstopp betroffenen Personenkreis humanitäre Aufenthaltstitel nach § 25 Abs. 3 AufenthG erteilt, weil aufgrund der Verhältnisse in Syrien die Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs.2 AufenthG generell zu bejahen seien.
[…] die Innenverwaltung [prüfe] immer, ob eine Rückführung in den Herkunftsstaat in Betracht komme. Im Hinblick au
f Syrien sei das bis auf Weiteres nicht der Fall. Sobald sich allerdings die Menschenrechtssituation in Syrien wieder stabilisiere, werde es erforderlich sein, das bestehende Abkommen wieder anzuwenden, insbesondere für illegal aufhältige Personen.“
(Bernd Krömer, Staatssekretär des Inneren)
Kommentar: Wer der Logik Krömers folgt, dem drängt sich der Verdacht auf, dass a) sich die abgeschobene Person vermutlich illegal in Deutschland aufgehalten hat und b) sich laut Ansicht des Senats die Menschenrechtssituation in Syrien zwischen November 2012 und Januar 2013 fundamental verbessert hat.
Abschiebungen nach Syrien erfolgten übrigens laut Senat von 1.1.2010 bis 14.3.2012 tatsächlich nicht. (Antwort des Senats auf unsere Kleine Anfrage vom 17.2.2012) Woher also der Gesinningswechsel?
Einige weitere Länder, in die im Januar 2013 aus Berlin abgeschoben wurde: Kosovo (7), Serbien (7) Russland (3), Türkei (3), Ukraine (2), Angola, Georgien, Vietnam (4) Iran, Pakistan, Korea Republik, Volksrepublik China.
Und noch paar rechtliche Hintergrundinfos, auf welcher Grundlage Abschiebungen, Abschiebehindernisse und Ausnahmen von den Abschiebehindernissen durchgeführt werden. Dazu lese man die Verfahrenshinweise der Ausländerbehörde Berlin (VAB) S. 337 (Abschiebungshindernisse) + 670 (Aussetzung der Abschiebung nach Syrien – Erteilung humanitärer Titel).
„Ausgenommen von dieser Anordnung sind Personen, bei denen Ausweisungsgründe nach den §§ 53, 54, 55 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 bis 4 und 8 bis 11 AufenthG vorliegen, bei denen eine vollziehbare Abschiebungsandrohung nach § 58a AufenthG erlassen wurde oder die wegen einer im Bundesgebiet begangenen Straftat verurteilt worden sind, wobei Geldstrafen von bis zu 50 Tagessätzen (additiv) außer Betracht bleiben.
Letztere erhalten jedoch mit Blick auf die unsicheren Verhältnisse in Syrien eine auf sechs Monate befristete Duldung nach § 60a Abs. 2 S. 3 AufenthG. Straftäter, die bei der Rückführung begleitet werden müssten, erhalten eine auf sechs Monate befristete Duldung nach § 60a Abs. 2 S. 1 AufenthG, weil begleitete Rückführungen nach wie vor nicht möglich sind.“
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Update 21.3. 16 Uhr: Der Innensenator hat in der spontanen Fragestestunde zu Protokoll gegeben, dass im Monat Januar und auch vorher definitiv niemand nach Syrien abgeschoben wurde. Bei der Beantwortung der Frage sei nach Nationalitäten aufgeschlüsselt und nicht nach den Abschiebeländern angegeben worden. Da jedoch von unserer Seite ausdrücklich nach dem Land gefragt wurde, in das abgeschoben wurde, bleibt nur die Konsequenz, dass die eindeutig formulierte Anfrage falsch beantwortet oder dass im Plenum gelogen wurde. Ich werde dem nachgehen.
Update 21.3. 20 Uhr: Letzte Erklärung des Senators: Alle 41 abgeschobenen wurden in die jeweils angegebenen Länder abgeschoben. Außer 12. Die wurden woanders hin abgeschoben. Wohin bleibt unklar. Aber jedenfalls definitiv nicht nach Syrien. Die Antwort auf die Anfrage sagt: „Bei 12 von 41 vollziehbar ausreisepflichtigen Personen erfolgte die Rückführung in Drittstaaten.“
Nach der Logik würde bei 29 Personen Staatsanzeige in der linken Spalte das Zielabschiebeland bedeuten, bei 12 aber die Staatsangehörigkeit (wobei dann eigentlich ’syrisch‘ stehen müsste, nicht ‚Syrien‘), das Herkunftsland (?) oder etwas anderes. Finde es jedenfalls sehr sonderbar, dass wir jetzt selbst die Antwort interpretieren müssen, die ja doch eigentlich Klarheit bieten sollte.
Hinweis: Die Interpretation des Begriffs ‚Vernunft‘ und was das Gegenteil davon darstellt, unterliegt natürlich einem breitem Interpretationsspielraum. Irgendwo innerhalb dieses Spielraums war der ursprünglich absichtlich sehr polemisch gewählte Titel angesiedelt. Auf mehrfache Bitte habe ich diesen dennoch verändert.