Seit Jahren diskutieren Politik-verdrossene Menschen über den Umstand, dass mit sinkender Wahlbeteiligung zwar gefühlt die Legitimation der politischen Institutionen sinkt, aber man davon in der Politik und vor allem bei all den Parteien, die sich nach der Wahl in schöner Regelmäßigkeit zum Wahlsieger erklären, nichts mitbekommt. Klaus Wowereit regiert mit 1,4 Millionen Stimmen Unterstützung der 3,4 Millionen starken Berliner Bevölkerung. In seinem Habitus merkt man davon nichts. Die Sitze im Parlament werden trotzdem vollständig von Parlamentariern gemäß der Verteilung der ca. 60 % abgegebenen Stimmen besetzt. Keine Stühle bleiben leer. Die Nichtwähler wählen damit exakt das Wahlergebnis, vor allem aber natürlich die die Mehrheit erringende Regierungskoalition mit. Enthaltungen werden nicht als solche gewertet.
Etwas Unerhörtes macht momentan die an politischen Gedankenspielen interessierte Bevölkerung die Runde. Die Berliner Piratenpartei könnte zu wenig Kandidaten für die ihr zustehenden Mandate haben, wie die taz bereits berichtete. Aktuellen Umfragen zufolge liegt sie momentan bei 9 %. Kandidaten gibt es fürs Land für bis zu 15 Sitze (zur Wahl stellen sich ursprünglich 28), ab 10% könnte das knapp werden, da Sonstige (wie die FDP) aufgeteilt werden und Ausgleichsmandate dazu kommen. Das bedeutet, es gibt – natürlich nur, falls die Prognosen wirklich stimmen – erstmalig in der jüngeren Parteiengeschichte die Möglichkeit für Nichtwähler, ihre Stimme zu benutzen, um Parteien aus dem Parlament raus, statt nur Abgeordnete hinein zu wählen. Die Motivation von Nichtwählern, nicht zu wählen, sind sicher sehr mannigfaltig: Vom schlichten Vergessen über Faulheit bis hin zu Entscheidungsunfreudigkeit. Diejenigen, die aber Parlamentariern gegenüber grundsätzlich kritisch gegenüberstehen und/oder Parteien generell ablehnen, könnten nun durch ihre Stimme für die Piratenpartei versuchen, das Parlament zu verkleinern. Denn eine Nachnominierung ist nicht möglich.
Ich persönlich, als Politikwissenschaftler, finde diese Situation daher sehr spannend. Natürlich rufe ich als Kandidat NICHT dazu auf, die Piraten zu wählen, um die Stühle leer zu fegen. Immerhin bin ich von unseren Zielen so überzeugt, dass ich auch 15 oder 20 % der Berliner Bevölkerung empfehlen kann, uns zu wählen – aber aufgrund unserer Ideen, unseres Programms, unserer Kandidaten Und natürlich sollte eine Stimme auch dazu genutzt werden, eine parteipolitische Präferenz auszudrücken und gerade nicht, um taktische Spielchen zu spielen. Und ich denke auch nicht, dass sich Nicht-Wähler organsieren werden, da sie in der Regel gerade weniger organisiert sind. Aber niemand kann jemand anderem vorschreiben, welche Intention diese(r) mit seiner/ihrer Stimmabgabe verknüpft. Und es bleibt festzuhalten: Diese Chance, mit seiner Stimmabgabe in einem fairen und demokratischen Wahlverfahren Parlametsgrößen zu reduzieren und damit Gelder einzusparen, dürfte über Jahre hinaus einmalig sein. Es dürfte also interessant sein, ob Berliner Bürger den Versuch starten werden, davon Gebrauch zu machen. Klar ist: Nie war die Aussage Guido Westerwelles mehr Wahres dran, eine Stimme für die Piratenpartei könnte (falls sehr viele Aspekte) zusammenkommen, doch eine Stimme für den Gulli sein. Aber nicht wegen der Fünf %-Hürde, sondern wegen des zu hohen Zuspruchs. Warten wir es ab.
P.S.: Nur ein kurzer Hinweis: Selbst falls der oben skizzierte hypertheoretische Fall eintreten sollte, kommen Stimmen über die maximale Anzahl der Sitze hinaus natürlich trotzdem der Piratenpartei zu Gute. Dadurch dass die anderen Parteien unseren 15 Kandidaten insgesamt weniger Parlamentarier gegenüber stellen können, steigt natürlich unser Einfluss im Parlament und unsere Stimmen werden prozentual relevanter. Wir bräuchten also etwa (nur) 90% der Stimmen, um die absolute Mehrheit zu erringen. 🙂
Gibt es Wahlkampfkostenerstattung für die Gullistimmen? Ich denke, schon …
Oder dazwischen fehlt einfach nur ein Punkt 😉
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Neben dieser Einamligkeit gibt es in Berlin (und nur bei Berliner Wahlen) die Möglichkeit durch ungültig wählen Einfluß auf die Zusammensetzung der Parlamente zu nehmen: In Berlin wird die 5%- bzw. 3%-Hürde anhand aller abgegebenen Stimmen berechnet. Das hat die Republikaner einmal aus einem Bezirksparlament gehalten.
@ Guido-Statement: „Meine Stimme für den Müll!“ ist allerdings ein alter APPD-Slogan.