Nach Rück­tritt Wowereit: Die Doppel­moral rund um Neuwahlen in Berlin

Nur 27 Minuten brauchten Berlins Grüne, um nach Wowereits Rück­tritt Neuwahlen für Berlin zu fordern. Etwas später kamen nun auch die Linken dazu. Mir kommt das alles ziemlich komisch vor. Und das nicht, weil ich Neuwahlen ablehne. Im Gegenteil. Ich habe mir die Argumente der Initiative für Neuwahlen in Berlin genau angehört und mich sogar mit Mitini­tia­titor Felix Herzog getroffen und einen Podcast zu genau dieser Frage­stellung aufge­nommen. Denn die Argumente dafür liegen seit langem auf dem Tisch: Mieten explo­dieren, stadt­ent­wick­lungs­po­li­tische Steuerung gibt es nicht, Grund­rechte werden einge­schränkt, Absprachen gebrochen und und und… Gründe finden sich immer, momentan besonders viele. Ich habe daher dazu auch einen Antrag an meinen Landes­verband gestellt, der (leider) abgelehnt wurde. Ich selbst habe (auch wenn ich noch immer nur 3/4 über­zeugt war) dafür gestimmt. Nur ist klar, dass weder SPD noch CDU ein Interesse an Neuwahlen haben. Das mag man falsch finden, ist aber so. Insofern ist diese Initiative der einzige realis­tische Weg, dies auch zu erreichen. Nun wurde die Initiative also weder von Piraten, noch von den anderen Opposi­ti­ons­par­teien unter­stützt. Es stellt sich also ernsthaft die Frage, warum nun – obwohl sich an der Tatsache, dass Rot-Schwarz weiterregierenwurschteln will, Neuwahlen gefordert, statt ernsthaft angegangen – das heißt endlich losziehen und Unter­schriften sammeln – werden. Wirklich wollen tun Grüne und Linke sie ja nicht. Sonst würden sie daran arbeiten.

Und warum sich durch die Ankün­digung von Wowereit, die nun wirklich niemanden über­rascht hat, etwas geändert haben soll, verstehe ich nicht. Der Koali­ti­ons­vertrag wurde zwischen SPD- und CDU-Landes­vor­stand geschlossen. Über den Bürger­meister entscheidet das Parlament. Und bei Wahlen wird selbiges gewählt, nicht die Exekutive (außerdem noch 12 Bezirkspar­la­mente). Wer die Dauer der Legis­latur mit einer einzelnen Person der Exekutive verknüpft, erweist der parla­men­ta­ri­schen Demokratie und speziell dem dringend notwen­digen Selbst­be­wusstsein der Parla­mente innerhalb der Gewal­ten­teilung einen Bären­dienst. Nicht nur die Wahl der Regierung, sondern auch deren Kontrolle sowie die Verab­schiedung von Gesetzen und damit das Legen von Grund­werten und einem Rahmen für die Gemein­schaft erfolgt im Parlament. Oder zumindest sollte es das. Dass wir nicht immer diesen Ideal­zu­stand haben, ist mir klar. Genau deswegen kämpfe ich ja dafür. Aber an diesem dünnen und höchst sensiblen Ästchen jetzt noch weiter zu sägen, finde ich höchst fragwürdig. Zumal es ja ganz offen­sichtlich so aussichts- wie folgenlos ist. Außer ein paar poppigen Schlag­zeilen bringt es ja nichts. Unter dieser Voraus­setzung halte ich die Aussage „Die Berliner hätten Wowereit zum Regie­renden Bürger­meister gewählt und nicht die SPD.“ (Özdemir/Grüne) für dumm und auch für eine Gefahr für das Prinzip der Gewal­ten­teilung. Zumal die SPD 2011 gerade mal 30% erreichte und die rot-rote Koalition damit abgewählt wurde. Und wie erklären sich die 9% für die Piraten im Parlament? Waren das alles verirrte Nicht-Wowereit-Wähler?

Und was ist eigentlich mit den Piraten? Fordern die nur deswegen nicht auch Neuwahlen, weil sie dann aus dem Abgeord­ne­tenhaus fliegen? Ist das der wahre Grund? Naja…ich will niemandem diese Perspektive nehmen. Ich kann nicht das Gegenteil beweisen (weiß ja auch nicht, was wirklich die Wahrheit ist) und dass diese Meinung vertreten wird, tut mir auch nicht weh. Das ist halt Politik (also nicht ‚po­li­cy’, sondern ‚po­li­tics’). Trotzdem ein paar Argumente dagegen:
– Zum Zeitpunkt der Entscheidung der Piraten gegen einen ernst­haften Versuch für Neuwahlen, lagen wir bei 6% und damit oberhalb der 5%-Hürde.
– Bei der aktuellen Entwicklung der Bunde­s­partei lässt sich genauso argumen­tieren, dass baldige Neuwahlen für uns besser wären, als spätere.
– Wir waren doch die mit den zu kurzen Listen, was uns einen Stadtrat und zahlreiche weitere Mandatar_innen kostete. Das ließe sich besser heute als morgen korri­gieren.
– Nicht alle unsere Vertreter_innen sind…ähm…na­ja…toll. Ohne irgendwem zu nahe treten zu wollen – wir haben da sicher noch Potential nach oben. In Zahlen bedeutet dies schlicht: Zum Zeitpunkt der Aufstellung unserer LIsten, die jetzt in den Parla­menten sitzen, hatten wir 800 Mitglieder. Aktuell hätten wir über 3000 und zusätzlich mehr Bekannt­heitsgrad, was uns die Kandi­datur von Externen erleichtert. Außerdem haben sich zwei unserer Bezirks­frak­tionen bereits pulve­ri­siert und einige andere BVVler verab­schiedet, ohne ihr Mandat nieder­zu­legen. Die könnte man nun auch raus- und nachwählen. Gleich­zeitig haben wir tolle Menschen ohne Mandat, die zB in den Bezirken mitar­beiten.
– Das Ziel, bessere Listen aufzu­stellen, ist bereits lange formu­liert. ZB hier.
Das ist alles ist natürlich kein Beweis, aber vielleicht regt es ja zum Nachdenken an.

tl;dr: Ich habe nichts gegen Neuwahlen und kenne viele gute Argumente dafür. In den letzten 24 Stunden habe ich jedoch keine davon gehört. Die Volks­be­geh­ren­si­ni­tiative für Neuwahlen wäre die einzige Möglichkeit für die Berliner_innen, selbst zu entscheiden, ob es Neuwahlen geben soll. Das lehnen Grüne/Linke ab. Das kann man durchaus doppel­mo­ra­lisch finden. Und die Ablehnung von Neuwahlen durch Piraten mag viele Gründe haben, die nicht mit Umfra­ge­er­geb­nissen zu tun haben müssen.